Mal ein schöner Bericht von unseren Nachbarn aus der Schweiz (weitere Fotos unter "Quelle:").
04.06.2018
Alles anzeigenAls Tankstellen noch Orte der Freiheit und des Full-Services waren
Mit ihrer kühnen Architektur waren Tankstellen früher visionäre Aufbruchsorte. Heute steht an keiner der 3400 Schweizer Tankstellen mehr ein Tankwart, dafür gibt es warme Brötli und Bier. Tanken wird immer mehr zur Nebensache.
Full-Service anno 1960: Tankwartin an einer Minoltankstelle in der DDR.Bei uns im Dorf gab es früher eine Tankstelle mit zwei Zapfsäulen und einem Tankwart. Er betankte die Autos «ein-mal voll, bitte». Er putzte im Übergwändli die Scheibe, er hielt mit allen einen kleinen Schwatz, machte mit uns Kindern Faxen. Er kannte sich mit Autos aus. Seine Tankstelle war immer blitzsauber. Im kleinen Kassenhäuschen gab es Süssigkeiten für uns und Motorenöl fürs Auto. Die Tankstelle steht immer noch, sie sieht abgehalftert und winzig aus. Einen Tankwart gibt es nicht mehr, nur noch einen Zahlautomaten. Um die Scheiben zu putzen steht nicht einmal mehr ein Eimer Wasser bereit. Ich habe schon lange nicht mehr dort getankt. Wenige Hundert Meter entfernt steht eine neue, grosse Tankstelle mit Shop und Autowaschanlage. Geöffnet fast 365 Tage im Jahr, bis in die Nacht.
130 Jahre ist es her, dass Bertha Benz in einer Apotheke in Wiesloch eine Flasche Waschbezin kaufte, um ihre legendäre erste Fahrt in einem Automobil fortsetzen zu können. Es war der erste Tankstopp in der Menschheitsgeschichte. Noch eine ganze Weile sollten Apotheken und Drogerien die einzigen bleiben, welche die kühnen Automobilisten mit Sprit versorgten.
Mehr Apotheke als Tankstelle: Blick in den Verkaufsraum einer Shell-Tankstelle, 1955. (Bild: R. Lothar)Wir sind mit rund 3400 Tankstellen-Rekord-Land
Heute überzieht ein Netz aus 3400 Tankstellen die Schweiz. Wir sind ein Tankstellenland. Unsere Dichte an Zapfsäulen ist Weltrekord. Migrol und Coop sind mit ihren grossen Tankstellen-Shops auf Aufholjagd.
Das Tankstellennetz in der Schweiz
So viele öffentlich zugängliche Tankstellen besitzen die einzelnen Marken in der Schweiz
Denn wo einst die Scheiben geputzt und ein Schwatz gehalten wurde, da kaufen heute Jugendliche ihren Alkohol für den Ausgang, Familien Würste und Brot zum Grillieren, Feierabendignorierer Milch und Deodorants, Verliebte Stoffherzen und Kondome. Waren die kleinen Shops in den Tankstellen einst für Noteinkäufe konzipiert, gehören sie in der Agglomeration zur Versorgungskette. Sie ersetzten den Handwerkern die Dorfbeiz für ihren Znüni-Kafi. Sie laufen dem Bäcker mit Aufbackbötchen den Rang ab. Sie haben längere Öffnungszeiten als der Dorfladen, machen mit ihren Zeitungs- und Zigarettenangebot jedem Kiosk Konkurrenz.
Doch damit nicht genug: der Schweizer Tankstellenverband träumt davon, dass dereinst auch noch Post, Apotheke und ein Spa-Bereich in der Tanke integriert werden. Tanken? Ist zur Nebensache geworden.
Mit Benzin und Diesel alleine ist kein Geld mehr zu verdienen
Einer Betriebsstudie von Aral zufolge verdient ein Tankstellenpächter nur noch zwölf Prozent der Erträge mit dem Verkauf von Sprit. Die wichtigste Einnahmequelle ist der Shop. Benzin und Diesel wird zum Schmierstoff – «für das Folgegeschäft mit dem Kunden», wie es in der Studie heisst. Denn auch wenn man es den verstopften Strassen nicht ansieht: Der Kraftstoffabsatz aller Schweizer Tankstellen ist seit Jahren rückläufig. Benzin und Diesel verkaufen kann jeder, heute müssen Tankstellen Mehrwert bieten. Wie etwa die am letzten Wochenende eröffnete neue Gotthard Raststätte Süd, ein 13 Millionen teurer Holzbau. Tanken und rasten sollen zum «touristischen Erlebnis» werden.
Tankstellen in Form von Muscheln und Kaffeekannen
Es waren die Amerikaner, die dem Automobil als erste einen so hohen Stellenwert zugestanden, dass sie dafür eigene Tankstellen-Gebäude erstellten. Zapfsäulen, ein hohes Dach, ein Kassenhäuschen und ein Preismast, an diesen architektonischen Grundelementen hat sich bis heute nicht viel geändert, wie im kürzlich im Gestalten-Verlag erschienen Bildband «Schöner Tanken» nachzulesen ist. Wer darin blättert, wird nostalgisch.
Wo heute genormte Einheitsarchitektur vorherrscht, da trieben es die Ölfirmen vor allem in Kalifornien der 50er-Jahre bunt. Tankstellen mit Reetdächern, Tankstellen in Form von Muscheln, Kaffeekannen, Westernstiefel, quietschbunt oder komplett aus glänzendem Chromstahl. Die gewagten Tankstellen-Designs – mit schwebenden Dächern so ausladende wie die Heckflosse eines Cadillacs – erzählen von einer Zeit, als Autofahren noch abenteuerlich und zukunftsverheissend war. Damals, als das Rohöl üppig sprudelte, die Strassen leer statt verstopft waren und Umweltschutz kein Thema war.
Postkartengrüsse von der schönsten Tankstelle
In den 1950er und 60er-Jahren waren Tankstellen keine Unorte, sondern Treffpunkte, von denen man sich zumindest in den USA Postkarten zuschickte. Auch in der Schweiz entstanden nach dem Zweiten Weltkrieg vielerorts Tankstellen. Das Auto war eine wichtige Treibkraft des wirtschaftlichen Aufschwungs. Wer es sich irgendwie leisten konnte, fuhr mit dem Auto ans Mittelmeer oder in die Skiferien in die Alpen. Die Tankstellen in den Schweizer Bergen wurden zu wichtigen Haltepunkten. Ihren wachsenden Einfluss und Reichtum markierten die grossen Ölunternehmen weltweit mit kostspieligen Pavillons aus Glas und Beton, entworfen von den besten Architekten ihrer Zeit wie Arne Jacobsen, Thomas Little oder Andrew Lloyd Wrigth.
Quelle und weitere Fotos: https://www.luzernerzeitung.ch/leben/viele-li…elle-ld.1025870